Die Umschulung

Ja.Ja.Ja.Ja.Ja.Ja. Das ist das Protokoll eines erfolgreichen Verkaufsgesprächs. Wenn der Käufer fünfmal ja gesagt habe, erläutert der Lehrer, sei die Trägheit des Gehirns so weit fortgeschritten, daß er auch zum sechstenmal ja sage. Der Lehrer kommt aus dem Westen. Das Klassenzimmer ist in einem Clubhotel im Tessin. Die Schüler kommen aus dem Osten. Sie sind Angestellte zweier ostdeutscher Baufirmen, die jetzt einem Westdeutschen Besitzer gehören.

Die Umschulung, die neue Dokumentation von Harun Farocki, ist ein Lehrfilm über die Arbeit an der inneren Einheit. (...) Das Raffinement des von Farocki festgehaltenen pädagogischen Verfahrens liegt in der Selbstreferenz. Das Unterrichtsgespräch, das das Verkaufsgespräch lehren soll, wird selbst schon als Verkaufsgespräch geführt. Der Lehrer flicht Anekdoten ein, stellt rhetorische Fragen, lockt und warnt. Ziel und Methode sind eins: Reduktion von Komplexität. "Wenn sie hier weggehen, wird sich ihr Wortschatz entschieden verkleinert haben." Auch auf dem Markt der Worte herrscht das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Dem gesteigerten Bedarf am "Ja" entspricht der Nachfrageausfall beim "Nein". Die Schüler dürfen noch nicht einmal mit dem Kopf schütteln. "Warum dürfen sie in der täglichen Praxis nicht den Kopf schütteln, Herr Wagner?" "Weil es Ablehnung ausdrückt". "Wenn wir jetzt in der stärkeren Position sind, dann fangen wir doch gar kein Preisgespräch mehr mit ihnen an."

Die Maximen, die der Lehrer memorieren ließ, faßten die Paradoxien der Individualität zusammen, wie sie die Moralistik entfaltet hat. "Das Ich ist nichts. Das Sie ist alles. Nur das Gegenüber zählt. Sie müssen Ihr Leben ändern." Aber die Unterwerfung unter den anderen dient nur seiner Überwältigung im Verkaufsabschluß. Das Individuum existiert nur von Gnaden der Gesellschaft. (Patrick Bahners, FAZ, 11.06.1994) "Der Mensch", sagt der Trainer und meint damit den Anbieter, "wird immer wichtiger, denn die Produkte werden immer ähnlicher". Wenn der Kunde das Gefühl hat, daß er respektiert und sogar ein wenig gemocht wird, dann schlägt er zu. Und wenn er feilschen will, soll man ihm Theater bieten! "Ein leichter Sieg verprellt den Kunden". Nach der langen, lauten Zeit der Enthüllung, Überredung, Aufklärung mit der Kamera wirkt diese neue Zurückhaltung wie eine Wohltat. Endlich kriegt man nicht mehr dazugesagt, wie man denken und urteilen soll, endlich ist auch der Dokumentarfilm ein Phänomen, bevor er ein Beweis ist.

(Barbara Sichtermann, 1994)

Regie, Buch Harun Farocki Regie-Assistenz Ronny Tanner Kamera Ingo Kratisch, Thomas Arslan Schnitt Max Reimann Ton Klaus Klingler Produktions-Assistenz Aysun Bademsoy, Anna Faroqhi, Elke Naters Produktion SWF, Baden-Baden, Harun Farocki Filmproduktion, Berlin Produzent Harun Farocki Redaktion Ebbo Demant Länge 44 Min. Format Video-BetaSp, Farbe, 1:1,37 Erstsendung 09.06.1994, ARD Auszeichnung Adolf-Grimme- Preis, 1995 (Kategorie "Allgemeine Programme/ Information und Kultur") Anmerkung Beitrag für die TV-Reihe leben lernen inklusive